Jurata verfolgt die Mission, den Zugang zum Recht zuverbessern. Dazu arbeiten wir unentwegt an unserer Plattform, mit der wir Rechtsuchenden den Zugang zu Anwältinnen und Anwälten erleichtern. Aber ist damit schon genug getan oder gibt es noch andere Elemente? Jurata hat sich mit Dr. iur. Jlona Caduff, Legal Counsel + Legal Designer sowie Gründerin und Inhaberin der Legal by Design AG, über diese spannende Frage unterhalten. Sie beschäftigt sich seit 2019 mit dem relativ jungen, weltweit aber rasch an Aufmerksamkeit gewinnenden Legal Design-Ansatz.
Jlona, könntest Du uns sagen, worumes bei Legal Design geht?
Legal Design hat das Ziel, rechtlicheThemen für die Bedürfnisse der Anwenderinnen und Anwender verständlich und ansprechend aufzubereiten, d.h. die Informationen inhaltlich, visuell, sprachlich und «userzentriert» zu designen.
Was bedeutet für Dich persönlich «Access to Justice» und wo siehst Du die Relevanz von Legal Design in der Gesetzgebung?
Access to Justice hat für mich 3 Säulen: Der Anspruch steht und fällt zunächst einmal mit der ersten Säule: Schutz und Gerechtigkeit für alle, insbesondere natürlich die Wahrung von Menschenrechten sowie dem Schutz von Minderheiten.
Eine zweite Säule bildet die Durchsetzbarkeit dieser Ansprüche: Zugang zu Gerichten und Behörden sowie professionelle und für die Rechtsuchenden finanziell tragbare Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte.
In diesen beiden Themen wird in derSchweiz viel gemacht und ich denke, wir stehen einigermassen gut da – insbesondere natürlich im Vergleich zu gewissen anderen Ländern. Es entstehen laufend neue Unternehmen und Geschäftsmodelle, welche die bisherigen Leistungen und Kostenfaktoren professioneller Rechtsunterstützung in Frage stellen. Man denke nur an Rechtsberatungsleistung für unter CHF 100.— pro Stunde, «Step-in» Rechtsberatungs-Shops und die zahlreichen Plattformen, auf denen man Vorlagen und Vertragstemplates für wenig Geld herunterladen kann.
Das stimmt, da läuft ja im Moment sehr viel und auch wir bei Jurata wollen z.B. im Bereich Kostentransparenz inder Zukunft Impulse setzen – aber wo siehst Du denn in der Schweiz noch Lücken im System?
Access to Justice beinhaltet für mich noch eine dritte Säule: Es beginnt bereits dort, dass meine betagte, geistig aber top fitte Nachbarin sich möglichst selbständig und einfach darüber informieren kann, was sie in ihrem Testament vorkehren sollte, damit ihrem letzten Willen auch tatsächlich entsprochen werden kann. Insbesondere in familiär und finanziell einfachen Fällen, wie das bei ihr der Fall ist.
Access to Justice bedeutet für mich auch, dass ein Unternehmen in der Lage sein muss, die grundlegenden Datenschutzvorgaben zu verstehen und auch ohne interne Rechts- oder Complianceabteilung oder hohe externe Beratungskosten umzusetzen.
Und natürlich, dass Vertragsschliessende verstehen, was sie warum mit welchen Konsequenzen unterzeichnen.
Aus meiner Sicht ist diese Säule heute das grösste Problem, daran müssen wir noch arbeiten. Und da kann Legal Design zur Lösung beitragen.
Aber ist es nicht die Aufgabe der Juristinnen und Juristen, die Rechtsuchenden über die Inhalte von Gesetzen und Verträgen aufzuklären und zu beraten?
In komplexen Fällen, ja klar. Wenn ich ein Haus bauen will, brauche ich ArchitektInnen, StatikerInnen, BauleiterInnen, ElektrikerInnen etc. Wenn ich aber ein Bad habe, will ich nicht jedes Mal das Sanitärgeschäft rufen müssen, um eine Dusche nehmen zu können.
Bei Verträgen und Weisungen ist es aus meiner Sicht im ureigensten Interesse von Unternehmungen, ihren Adressaten den Zugang so selbständig, verständlich und ansprechend wie möglich zugestalten – gerade in Zeiten, in denen Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit sowie Compliancethemen (angeblich) eine so grosse Rolle spielen.
Und was heisst das für die Gestaltungvon Gesetzen?
Dazu kann man verschiedene Meinungen haben. Alle müssen Gesetze befolgen, soviel ist klar. Aber die entscheidenden Fragen sind wohl: Sollen und können Gesetze direkt als Nachschlagewerke zur Instruktion der «Bürgerinnen und Bürger» dienen? Oder richten sie sich ausschliesslich an Juristinnen und Juristen, weil unser kompliziertes Rechtssystem und das Zusammenspiel der Normen ohnehin nur mit einer juristischen Ausbildung verstanden wird? Oder sind Gesetze in erster Linie sogar nur eine Dokumentation inhaltlicher Ergebnisse unserer (politischen) Gesetzgebungsprozesse?
Welche Meinung hast Du dazu?
Die Antwort ist nicht einfach – es ist ein Zusammenspiel aller drei Funktionen mit entsprechenden Zielkonflikten und Kompromissen. Wenn ich aber unsere Gesetze und all die Probleme mit ihrer Auslegung und Anwendung sehe, bin ich nicht sicher, ob solche Kompromisslösungen dazu geeignet sind, den unterschiedlichen Anforderungen gerecht zu werden.
In der Gestaltung von Gesetzen, die sich an die breite Masse der Bevölkerung richten, müssten aus meiner Sicht die Bedürfnisse ihrer Adressatinnen und Adressaten wesentlich höher gewichtet werden als dies heute der Fall ist. Bei ganz spezifischen Themen, die ohnehin nur von wenigen Spezialistinnen und Spezialisten konsultiert und angewendet werden, könnte ich mir eine tiefere Messlatte vorstellen.
Aber ist es nicht klar, dass sich alle Gesetze in allererster Linie an nicht juristisch ausgebildete Bürgerinnen und Bürger richten müssen?
Ja, das ist grundsätzlich so. Auf der Webseite der Bundeskanzlei steht denn auch ausdrücklich, dass Rechtsvorschriften ihre Wirkung nur entfalten können, wenn sie von den Personen verstanden werden, welche die Vorschriften anwenden müssen, weshalb sie bürgernah, transparent und verständlich sein sollen. Aber ich habe den Eindruck, dass dieser Anspruch heute nicht bzw. nur teilweise erfüllt wird.
Was meinst Du, woran das liegt?
Wie erwähnt denke ich, dass die unterschiedlichen Funktionen, Zielkonflikte und die Notwendigkeit zu Kompromissen wesentlich dazu beitragen.
Fraglich ist ausserdem, ob Rechtsnormen, die für eine unbestimmte Gruppe von Personen und eine Vielzahl unterschiedlicher Fälle gelten müssen, eine Instruktionsfunktion erfüllen und als Nachschlagewerk dienen können.
Eine weitere Frage ist, ob die Organisation und Gesetzgebungsprozesse in der Schweiz die Erfüllung dieses Anspruchs überhaupt ermöglichen oder allenfalls erschweren. In der Bundesverwaltung gibt es zwar professionelle Gesetzesredaktorinnen und-redaktoren, die inhaltliche und systematische Widersprüchlichkeiten in den Entwürfen aufdecken und für sprachliche Klarheit sorgen. Aber angesichts der Menge von Gesetzestexten, den knappen Ressourcen und dem infolge des politischen Meinungsbildungsprozesses engen Spielraum sind ihre Möglichkeiten wohl beschränkt.
Würden denn aus Deiner Sicht rein sprachliche Verbesserungen genügen?
Nein, selbstverständlich nicht. Dazu gehört auch, dass die gesuchten Informationen gefunden werden, die Rechtsuchenden sinnvoll, im Kontext und aus Anwendersicht durch die Themen navigieren können und die Informationen mit den jeweils passendsten Mitteln organisiert und präsentiert werden. Legal Design, wie ich es verstehe und anwende, umfasst Informations- und Kommunikationsdesign, was wesentlich weitergeht als nur sprachliche Mittel.
Wir sind bei der Recherche auf Dein sehr anschauliches Beispiel einer Umformulierung der Bestimmung zum Profiling im neuen Datenschutzgesetz gestossen. Würden solche sprachlichen Anpassungen nicht bereits sehr vielen Rechtsuchenden helfen?
Da geht es nicht primär umsprachliche Änderungen, der Wortlaut ist praktisch identisch. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass wir wesentlich mehr Mittel in der Trickkiste haben als nur die Sprache. Hier habe ich beispielsweise unterschiedliche Informationskategorien getrennt, eine visuelle Hierarchie gebildet, optische Filter eingebaut und ein Listenformat verwendet. Als Informationsdesigner müssen wir lernen, den Adressatinnen und Adressaten die Informationsverarbeitung so einfach wie möglich zu machen und dafür die uns zur Verfügung stehenden Mittel optimal einzusetzen.
Spannend. Wenn wir eine umfassendere Systemänderung in unserer Gesetzgebung, die wir wohl – wenn überhaupt – so rasch nicht erleben werden, einmal beiseitelassen: Was könnte aus Deiner Sicht im jetzigen System verbessert werden?
Da gibt es verschiedene Ansätze.
Gesetze sind online publiziert und frei zugänglich. Aber die Suche, Navigation und Orientierung für die Rechtsuchenden sind noch weit entfernt von einer echten Nutzerfreundlichkeit. Jemand, der juristisch nicht ausgebildet ist, hat wenig Chancen, die für seine Fragen relevanten Gesetze und Verordnungen überhaupt zu finden.
Um auf das Beispiel meiner Nachbarin zurückzukommen: In der Stichwortsuche «Testament» erscheinen 357 Hits, das meiste davon sind für ihren Zweck irrelevante internationale Abkommen – im Ernst, wie soll sie sich da zurechtfinden?
Oder denken wir an eine Produktverantwortliche in einem Informatikunternehmen, die ihren Service datenschutzkonform entwickeln, produzieren und vertreiben will: Das Datenschutzgesetz wird sie zwar finden, aber auch nach gewissenhaftem Studium nur bruchstückhaft verstehen, was sie konkret zu tun hat.
Liegt nicht auch ein weiteres Problem darin, dass die gesetzgeberischen Konzepte oft bereits sehr kompliziert sind?
Auf jeden Fall. Die Konzepte sind das Resultat politischer Prozesse, divergierender Interessen und entsprechender Kompromisse. Es ist schwierig, auf dieser Grundlage einfache, verständliche und für ihre Adressatinnen und Adressaten handhabbare Konzepte zu schaffen.
Umso wichtiger ist es deshalb, in das adressatengerechte Design komplizierter Konzepte zu investieren. Es wäre einen Versuch wert, gewisse Themen visuell und graphisch aufzubereiten. Ich habe keine Vorgaben gesehen, die so etwas verbieten würden. Bereits ein etwas nutzerfreundlicheres Layout und eine optische Führung der Leserinnen und Leser könnte die Zugänglichkeit verbessern. Oder beispielsweise die Sichtbarkeit gesetzlicher Definitionen dort sicherstellen, wo sie effektiv verwendet werden.
Und wenn all das nicht machbar wäre?
Man könnte nebst den offiziellen Gesetzestexten eine «Decodierung» mit paralleler Aufbereitung der wichtigsten Elemente in einer verständlichen und ansprechenden Form zur Verfügung stellen, so wie dies aktuell in den Corona-Themen gemacht wird. Ich könnte mir vorstellen, dass dies mit der Zeit sogar zu einer Art «Rückkopplung» hin zur Vereinfachung der konzeptionellen, strukturellen und sprachlichen Gestaltungunserer formellen Gesetzgebung führen könnte.
Viele gute Ansätze – und wie könnte man jetzt konkret diese dritte Säule des Access to Justice-Anspruchs in der Gesetzgebung zum Leben erwecken? Wie siehst Du als Fahnenträgerin des LegalDesign-Themas in der Schweiz Deine Rolle darin?
Du erwartest von mir, dass ich mich dem Legal Design-Thema in der Gesetzgebung annehme? Selbstverständlich wäre es extrem spannend, auch in der Gesetzgebung etwas zu bewegen – aber ich befürchte, das wäre eine grössere Lobbying-Aufgabe, für die es Spielerinnen und Spieler mit grösserem Gewicht als mich braucht. Aber auch im direkt und wesentlich schneller beeinflussbaren Unternehmensumfeld kann man noch viel für eine bessere Zugänglichkeit zu rechtlichen Themen tun, auch da stehen wir erstganz am Anfang.
Sehr gut – auch wir werden unsere Mission eines besseren und breiteren Access to Justice hartnäckig weiterverfolgen. Noch eine letzte Frage zum Abschluss: Wie ist es denn mit Deiner Nachbarin weitergegangen?
Ich hatte ihr die relevanten Gesetzesartikel zum Erbrecht und ein Merkblatt zum Unterschied zwischen Erbeinsetzung und Vermächtnis ausgedruckt. Ein paar Tage später hatte sie mir eine Schachtel Pralinées mit einer Karte vorbeigebracht, worin sie sich aber nur für das «sehr nützliche» Merkblatt bedankte – ich denke, das sagt bereits alles…
Ja, das stimmt nachdenklich. Wir danken Dir herzlich für das interessante Gespräch und wünschen Dir auf Deinem Weg weiterhin viel Spass und Erfolg! Und allen interessierten Leserinnen und Lesern legen wir die Webseite der Legal by Design AG ans Herz, wo sich weitere Informationen und Inspirationen zum Thema Legal Design finden.
Das Interview wurde von Luca Fábián geführt.